Erinnerung an Theodor Kramer

„Vielleicht hab ich es leicht, weil schwer, gehabt“. Zur Erinnerung an Theodor Kramer (1897 bis 1958).
In wenigen Wochen, am 3.April, jährt sich der Todestag des österreichischen Dichters Theodor Kramer – er starb, wenige Monate nach seiner Rückkehr aus dem englischen Exil, vor 65 Jahren in Wien an den Folgen eines Gehirnschlages. Doch auch 65 Jahre nach seinem Tod lebt Kramer in seinen Gedichten weiter. Nicht zuletzt haben die uns vorliegenden Vertonungen seiner Lyrik dazu beigetragen, dass sein Name und Teile seines Werkes bei den Stämmen unserer Schwarzzeltvölker bekannt ist und auch bleiben wird.

Vermutlich kennen viele einige der „Klassiker“, die aus seinen mehr als 12.000 Gedichten (davon nur etwa 2.000 erschlossen) Eingang in unser pfadfinderisches, bündisches Liedgut gefunden haben. Bei vielen Singerunden erklingen Lieder wie „ Andre, die das Land so sehr nicht liebten“; „Ein Krampenschlag vor Tag“, das „Trinklied vom Abgang“; „Fronleichnam“; „Gospodar, dein Großgut“, die „Ziehharmonika“ und andere mehr…

Von Kramer sind keine eigenen Vertonungen seiner Gedichte  bekannt oder überliefert. Vertonungen stammen entweder aus bündisch-pfadfinderischen Kreisen oder von „professionellen“ Liedermachern/Musikern wie zum Beispiel dem Duo „Zupfgeigenhansel“. Diese ließen eine erste LP mit Kramer-Liedern in den 80er Jahren pressen. Auch Hans -Eckardt Wenzel hat Kramer vertont („Lied am Rand“, conträr-Musik), ebenso Heike Kellermann und Wolfgasng Rieck.  Die Theodor-Kramer-Gesellschaft in Österreich hat es sich seit 1984 zur Aufgabe gemacht, Kramers Erbe für die Nachwelt zu erhalten.

Nein, Theodor Kramer war kein „dichtender Bündischer“, kein „schriftstellernder Pfadfinder“, obwohl er sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg der österreichischen Jugendbewegung anschloss. Der Tonfall seiner Gedichte jedenfalls erfreut sich, gerade im Zusammenspiel teils kongenialer Vertonungen, im Schwarzzeltmilieu großer Beliebtheit. Aber welches Schicksal ist mit seinem Namen verbunden?

Geboren am 1. Januar 1897 im niederösterreichischen Niederhollabrunn, wuchs er in der Endphase des Habsburgerreiches als Sohn eines jüdischen Landarztes auf. Nach eigenem Bekunden fängt er mit 13 Jahren mit dem Gedichteschreiben an – angesichts der hohen Zahl an Gedichten ist man versucht, schon fast von einem Zwang zu reden. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges schließen er und sein Bruder Richard sich der Österreichischen Jugendbewegung an.

Der österreichischen Sozialwissenschaftlerin und sozialistischen Gewerkschafterin Käthe Leichter (1895 -1942, von den Nazis in der Tötungsanstalt Bernburg als Oppositionelle ermordet) zufolge war diese Jugendbewegung „ vom Altösterreichertum ihrer Väter genauso angewidert wie die deutsche Jugend vom Biertischgermanentum der ihren.[…]“

Bei Kramers Biographen Erwin Chvojka findet  sich nichts über eine konkrete Gruppe, für die Kramers Zugehörigkeit länger  belegt ist. Nachweislich unternahm er jedoch von 1921 bis 1931 in jedem Jahr große Wanderungen durch Niederösterreich und das Burgenland. Hier schärfte er den Blick, hier fand er einen Teil der Stoffe für seine Lyrik: „Die Gedichte, die er in den frühen 20erJahren schreibt, bezeichnet er später als „mystisch“, Zunehmend steht er unter dem Einfluss Georg Trakls […]“

Wie viele der jungen Männer aus dem Wandervogel und der freideutschen Jugend im Deutschen Kaiserreich Patrioten waren, so war auch der Österreicher Kramer ein – habsburgischer- Patriot. Nach der Matura studiert er in Wien an der Exportakademie, wird 1915 gemustert und muss als Offiziersanwärter an die Front. In Wolhynien, im Grenzgebiet zum Zarenreich (eine historische Landschaft in der Westukraine) erleidet er eine schwere Kriegsverletzung an Kopf und Schulter, die Ärzte wollen ihn zunächst schon aufgeben. Doch nach seiner Genesung erlebt er den Krieg bis zum letzten Tag mit, am Schluss in Italien. Nach dem Waffenstillstand läuft er dann zu Fuß von Friaul bis hinauf nach Wien. Seine Erlebnisse finden später Eingang in die Gedichtsammlung „Wir lagen in Wolhynien im Morast“, erstmals erschienen in einer Auflage von 1.000 Exemplaren beim Verlag Paul Szolnay (Wien, 1931).

Anders als bei den Kriegsromanen  seiner Altersgenossen Erich Maria Remarque ( „Im Westen nichts Neues“-  schon 1930 vom US-Produzenten Lewis Milestone verfilmt) oder des deutschnationalen Ernst Jünger („In Stahlgewittern“) bleibt der wirtschaftliche Ertrag seiner Erinnerungslyrik vergleichsweise bescheiden. Die Jahre von 1918 bis 1931 sind geprägt von der Suche nach einem passenden Beruf; ein Studium der Philosophie gibt Theodor Kramer bereits 1920 auf und arbeitet ab dieser Zeit jahrelang in verschiedenen Buchhandlungen in Wien. Fast jeden Tag entstehen jetzt Gedichte, aber, so sein Biograph Erwin Chvojka, zu „eigenständiger Ausdrucksform“ findet er erst 1927. Bei einem Lyrikwettbewerb des S.Fischer-Verlages kommt es zu einer „ehrenhaften Nennung“. 1931 erinnert sich Kramer: „Dann, plötzlich, vor nun vier Jahren, gelang das Unvermutete und ganz Einfache: ich schrieb nieder, was mir früher bloß Anlaß zum Schreiben und Ursache meiner Stimmungen gewesen war…“ Er hat seinen eigenen Stil endlich gefunden. Und positioniert sich politisch, gegen Austrofaschisten und Nazis, für die Arbeiter und „kleinen Leute“. Die Erste Republik, das Österreich, der deutschsprachige Rumpfstaat, der  vom einst großen und ruhmreichen habsburgischen Vielvölkerstaat nach dem verlorenen Weltkrieg übriggeblieben war, war ein sozial tief gespaltenes Land. Kramer wird zum Zeitzeugen dieses Zustandes.

Das  Jahr 1928 ist das Jahr eines ersten literarischen Erfolges. Für seinen Gedichtband „ Die Gaunerzinke“ erhält er den Lyrikpreis der Stadt Wien. Und muss, als Jude und Anhänger des Sozialismus schon erste Anfeindungen von christsozial-konservativer wie auch bereits nationalsozialistischer Seite erleben, da er ins „jüdisch-bolschewistische“ Feindbild der Nazis passt. Der NS- Chefideologe Alfred Rosenberg, 1946 in Nürnberg als NS-Kriegsverbrecher gehängt, schreibt diffamierend 1929 über Kramer, man kenne ihn bei den Nazis nicht, aber „die Einfühlung in die Ostjudenseele“ sei ihm gelungen. „Denn was marxistische Führerschaft tut, ist nichts anderes, als Gaunerzinken aufs deutsche Haus zu zeichnen“. Damit nahm Rosenberg Bezug auf ein entsprechendes Gedicht Kramers, in dem ein nicht näher bezeichnetes lyrisches Ich bei einem Gehöft um ein Stück Brot bettelt, abgewiesen wird und ein Gaunerzinke an die Hauswand malt. Für alle nachfolgendes Bittsteller macht es Kramers lyrisches Ich klar: Hier kriegt man nichts, hier ist nichts für Bettler zu holen:

„ Hier, seht, hier bat – und bat nur stumm- nach mir, Ihr Brüder, eine Hand. Und einer geht ums Haus herum und einer setzt’s einst nachts in Brand.“  Die Drohung mit der Brandstiftung, aus Wut und Not heraus, wenn auch nur auf dem Papier, am Ende eines Gedichtes, war eine Steilvorlage für den Judenhasser Rosenberg. Die scharfen Beobachtungen Kramers aus seiner niederösterreichischen (wie auch Wiener) Lebenswelt bei Bauern, Metzgergesellen, Tagelöhnern, Steinbrechern, Donauschiffern etc; seine Miniaturen über Armut und Ungerechtigkeit, die Härten des Daseins –  waren den Nazis schon vor 1933 ein Dorn im Auge. Denn Kramers Lyrik war nicht jene Art von „völkischer Blut- und Boden“ -verherrlichender Lyrik, die der NS favorisierte.

Hilde Spiel (1911 -1990), jüdische Journalistin, bereits 1936 aus Österreich nach England emigriert, mit dem Schriftsteller Peter de Mendelssohn verheiratet  und in Großbritannien  eine Gefährtin Kramers, erinnerte sich viel später: „Wenn etwas den dummen deutschen Mythos von der „artreinen“ Bindung an „Blut und Boden“ widerlegt, dann sind es seine wunderbaren Schilderungen der Natur, der Landschaft, der Bauern und Häusler, der Glasbläser und Winzer, der Lehrer und Schreiber,[…] der Soldaten und der einfachen Leute allenthalben und überall. Seine Naturgedichte berühren sich mit den schönsten von Peter Huchel, seine Frontgedichte aus Wolhynien haben uns zu Anfang der Dreißiger Jahre den Schützengrabenkrieg mit seinem Elend und Morast erschütternd nähergebracht, seine Liebesgedichte sind von hautnaher Sinnenfreude, seine Emigrationsgedichte zerreißen uns das Herz..“

Waren die Jahre von 1930 bis 1932 noch von öffentlichen Lesungen, vielfältigen Publikationen auch in (reichs-) deutschen Printmedien geprägt, ebenso wie durch gelegentliche Lesungen im Rundfunk, wurde Kramers persönliche Lage nach der Machtübernahme der Nazis mehr und mehr unhaltbar. Nach der „Machtergreifung“ Hitlers 1933 konnte Kramer  als Jude nicht Mitglied in der von Propagandaminister Goebbels eingerichteten „Reichsschrifttumskammer“ sein, in der jede/r,  der publizieren wollte, Mitglied sein musste. Auch Österreich rückte politisch nach rechts. 1934 übernahmen bereits die „Austrofaschisten“ in Österreich die Regierung. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs wurde 1934 verboten. Für den linksgerichteten Kramer wurde das Publizieren von Gedichten zunehmend schwieriger. Schon vor dem „Anschluss“ Österreichs 1938 hatte er wirtschaftlich zu kämpfen, war durch eine chronische Darmentzündung (Colitis) zudem immer wieder monatelang gesundheitlich schwer angeschlagen. Freunde sammelten für ihn immer wieder Spendengelder ein.

1937 wendet sich Kramer an den bereits 1933 aus Deutschland emigrierten Literaturnobelpreisträger Thomas Mann,  um diesen über die Situation der in Österreich lebenden Schriftsteller zu unterrichten. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 12.März 1938 und der Verkündung des „Anschlusses“ an Hitlerdeutschland firmiert dieses nun international als „Großdeutsches Reich“.  Über Nacht wird Kramer, so wie weitere etwa 220.000 jüdische Menschen in Österreich, nahezu völlig rechtlos und hat keine Publikationsmöglichkeiten mehr. Die Verzweiflung über seine Lage kann man in seiner Sammlung „Wien 1938/ Die grünen Kader 1946“  förmlich nachlesen, denn, wie  bei  eigentlich allen seinen Gedichten, hat er das Entstehungsdatum dazu notiert. Es sind die Ängste vor dem, was jetzt auf  Juden, Oppositionelle, Unliebsame  durch die Machtübernahme der Nazis auch in Österreich zukommen wird. Allein in Wien wählen etwa eintausend jüdische Bürger den Weg in den Freitod .Auch Theodor Kramer unternimmt 1938 einen Suizidversuch. Intensiv setzt er sich mit dem Thema Emigration auseinander. Schreibt er am 8.Juli 1938 noch „Ich weiß, ich wär nicht fähig auszureisen“ und bestätigt den Nazis  am 13.Juli 1938 noch, fast zynisch, ihn physisch bislang nicht belästigt zu haben (…„ Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan“ – abgesehen vom Publikationsverbot, was für einen Dichter ja die Katastrophe schlechthin ist..), geht es am 17. Juli um „ Andere, die das Land so sehr nicht liebten“ und bereits ins Exil  gegangen waren. Schliesslich, am 21.Juli 1938 um „die Angst, die den Menschen befällt, wenn es ihm nicht erlaubt ist, sein Tagwerk zu tun und er gar nichts mehr gilt auf der Welt. […]“ Es ist beklemmend, diese Gedichte zu lesen, und es ist ein Glücksfall, dass später ein Teil dieser Gedichte vertont wurde, denn so bleiben sie noch eher lebendig als ohne Melodien…

Das Jahr 1938 vergeht mit zahlreichen Bemühungen Theodor Kramers und seiner Frau Inge, eine Ausreise aus Österreich zu erreichen. Die Reichspogromnacht am 9.November 1938  schliesslich, mit ihren Verwüstungen der Synagogen, jüdischen Geschäfte, Misshandlungen und Ermordungen von Juden musste jedem, der es sehen wollte, zeigen, wohin die Reise gehen würde. Auch Theodor Kramer war dies bewusst.  Das Land für sein Exil scheint egal, Hauptsache weg. Da Theodor Kramer ab Januar 1939 „mit sämtlichen Schriften“ auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ des Goebbels‘schen „Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“ steht, gewinnt die Sache an zusätzlicher Dringlichkeit. Im Gespräch sind Destinationen wie die Schweiz, Shanghai und auch die Dominikanische Republik, wo sich Kramer um eine Stelle an einer Universitätsbibliothek bemüht… Schliesslich gelingt es zunächst seiner Frau als „domestic servant“, also Haushaltshilfe, nach Großbritannien ausreisen zu können. Endlich, nach weiteren Interventionen des Internationalen  Schriftstellerclubs „P.E.N“, Thomas Manns und des als Hitlergegner über London nach New York emigrierten Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906 bis 1984), der in den USA die  „American Guild for German Cultural Freedom gegründet hat  (die sich intensiv darum bemüht, verfolgten Schriftstellern die Ausreise aus Nazideutschland zu ermöglichen ) kann Theodor Kramer – nahezu in letzter Minute-  am 20.Juli 1939 über Dover nach Großbritannien einreisen….  Kramers noch in Österreich lebende Mutter wird im 2.Weltkrieg in das „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert und stirbt dort während des Krieges. Kramer erlebt in England entbehrungsreiche  Jahre als einer der vielen verarmten Emigranten. Als „enemy alien“ wird er 1940 interniert, im Januar 1941 entlassen. Immer wieder kann er bei deutschsprachigen Sendungen der BBC mitwirken. Dort lernt er neben anderen Emigranten auch den viel jüngeren  Erich Fried (1921 bis 1988) kennen, später selbst ein bekannter Lyriker in  Österreich und  Bundesrepublik. Das Schreiben von Gedichten setzt Kramer, mit Unterbrechungen durch Depressionen, auch in England fort. Ab 1943 findet er ein schmales Auskommen als Bibliothekar des Technical College in Guildford/ Grafschaft Surrey. Nach dem Krieg erhält Kramer 1946 die britische Staatsbürgerschaft, zu einer Rückkehr nach Österreich kann er sich lange nicht entschliessen. Von seiner Frau lebt er seit 1942 getrennt. Als er endlich zustimmt, doch wieder nach Österreich zu gehen, bleiben ihm sechs kurze Monate, bis er am 3.April 1958 in Wien die Augen für immer schliesst…

Das umfangreiche Werk Kramers ist zu groß und vielfältig, um es angemessen in einem kurzen Artikel würdigen zu können. Letzten Endes bleibt nur die Empfehlung, sich über die im Buchhandel oder Antiquariat erhältlichen Publikationen weitergehend mit seinem Leben, seiner Zeit und seinem Werk auseinanderzusetzen. Eine weitere Beschäftigung damit erscheint sehr lohnenswert, insbesondere auch weitere Versuche, einzelne Gedichte angemessen zu vertonen. Lasst uns weitere Gedichte mit neuen Melodien versehen! Und lasst uns die schon vorhandenen Lieder Kramers weiter singen. So wird die Erinnerung an Theodor Kramer und sein Werk auch weiterhin lebendig bleiben.

Autor: toklab, BdP e.V., Stamm Bergwolf, Stuttgart  (d.i. Hans Richter-Dunitza, Tübingen)

Die im Text kursiv gesetzten Zitate beziehen sich alle  auf die von Erwin Chvojka/Konstantin Kaiser herausgegebene Schrift: „ Vielleicht hab ich es leicht, weil schwer gehabt. Theodor Kramer 1897-1958. Eine Lebenschronik.“ Hrsg. von der Theodor-Kramer- Gesellschaft, Wien 1984. Mein Text stellt im Wesentlichen eine Zusammenfassung der dort gegebenen Informationen dar, ergänzt durch weiteres Material aus dem Internet. Über das ZVAB sowie den Buchhandel sind einzelne Gedichtbände/Sammlungen mit den Gedichten Kramers weiterhin erhältlich, ebenso bei der Theodor-Kramer-Gesellschaft in Wien. Bilder: wikipedia/ Internet commons/ Buchabbildungen: ZVAB (Zentrales Verzeichnis Antiquarischer Bücher)

 


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