Netflix-Dokumentation

„Pfadfinderehre“ ist eine frisch gestartete investigative Netflix-Dokumentation, die ein düsteres Kapitel der amerikanischen Pfadfinderorganisation „Boy Scouts of America“ thematisiert. Film.at stellt zu Recht fest: „Überall auf der Welt und in allen möglichen Lebenssphären lassen sich – leider! – Systeme und Strukturen finden, die sexuellen Missbrauch (meist von Kindern und Jugendlichen) begünstigen, diesen also zulassen, vertuschen und die Peiniger:innen dadurch schützen.“

Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese bitteren Ereignisse in manchen Zusammenhängen deutlicher ausgeprägt waren als an anderen Orten. Auch bei Pfadfinder:innen (insbesondere aber Pfadfindern) hat sexueller Missbrauch systematisch stattgefunden und eben auch bei den Boy Scouts of America (BSA). Ähnlich wie im Kölner Erzbistum existierten dort Akten, die heute als „Akten der Schande“ bekannt sind. Darin dokumentierte die BSA verdächtige Mitarbeiter, von denen eine Gefahr für Kinder und Jugendliche ausging und welche dennoch weiterhin bei den Pfadfindern engagiert bleiben konnten. Und es wurde dafür Sorge getragen, dass die Öffentlichkeit davon nichts erfuhr. Das ging so einige Jahrzehnte (man möchte meinen: seit Gründung). Das Ende der Geschichte ist bekannt: 82.209 Geschädigte, eine der größten Schadensersatzklagen, welche die USA je erlebt hat und die geregelte Insolvenz der BSA.

Die Pfadfinder nehmen in Amerika eine gesellschaftlich andere Stellung ein, als es hierzulande der Fall ist. Über Jahrzehnte hinweg war die BSA DIE prägende und bekannteste Jugendorganisation in Amerika, zumal es dort neben dieser keine relevante andere Pfadfinderorganisation für Jungen gab. (Also nicht so wie hierzulande, wo sich alle über Pfadfinder eher lustig machen und um die 182 unterschiedliche Organisationen für rege Konkurrenz untereinander sorgen). In Amerika war es eben nicht die Ausnahme, wenn der Sohn bei den Pfadfindern war – nein, es war üblich. In Anbetracht, dass die BSA hehre Ziele und Moral wie eine Fahne vor sich hertrug, war ihr gesellschaftlicher Sturz nach Offenlegung des Skandals umso tiefer.

Einen Skandal solchen Ausmaßes wird die Pfadfinderbewegung in Deutschland gar nicht erleben können, schlicht, weil es „die Pfadfinder“ in Deutschland ja eben nicht gibt, sondern einen lustigen, vielfältigen Flickenteppich. Und Schadensersatzforderungen würden in Anbetracht der überschaubaren Finanzmittel wohl auch ins Leere laufen. Doch der wesentlichste Punkt ist, dass viele der größeren Pfadfinderorganisationen hierzulande noch bevor „die Öffentlichkeit“ überhaupt eine solche Forderung an sie herangetragen hatte, also aus eigenem Antrieb heraus (!), mit der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt begonnen haben. Sie wollten einfach selbst wissen, ob und in welchem Umfang es zur Vertuschung gekommen war. Denn auch hier liegt ein wesentlicher Unterschied der Systeme: Hauptamtliche Pfadfinder und professionelle Strukturen wie in Amerika gibt es in Deutschland allenfalls mal fragmentarisch. Es ist hierzulande – jedenfalls in jüngerer Zeit – eher unüblich, dass über Jahrzehnte hinweg dieselben Personen die Fäden in der Hand halten, die zudem persönlich-existenziell davon abhängig wären, dass keine Skandale bekannt werden. Viele der deutschen Pfadfinderorganisationen machen also ihre Hausaufgaben – beileibe aber nicht alle, wo es Anlass dazu gäbe. Veröffentlicht wurde nach meiner Kenntnis aber noch kein Aufarbeitungsbericht – man wird sehen, was diese ergeben und wie „schonungslos“ Versäumnisse dann tatsächlich offengelegt werden. In Teilen handelt es sich bei meiner positiven Interpretation also um Vorschusslorbeeren.

Der Durchschnittspfadfinder hierzulande dürfte (sofern er Netflix hat) aber wohl (ebenso wie Otto Normalbürger!) nicht denken: „Och, jetzt guck ich mir eine schöne Doku an über…“ Tja. Und genaugenommen ist das vielleicht eigentlich genau der Punkt, über den gesamtgesellschaftlich wirklich mal gesprochen werden müsste: Verdrängung unangenehmer Themen. Denn auf Skandale ist ja nun wirklich keiner scharf, wenn er einen selbst betrifft. Und wenn keine:r von dem Thema hören will, ist Vertuschung ja fast ein Dienst an der Menschheit. Viele sind von dem Thema sexualisierte Gewalt, gerade wenn es um Kinder geht, emotional schlicht überfordert. Das war in früheren Jahrzehnten noch sehr viel ausgeprägter als heutzutage. Meines Erachtens ist nicht allein Organisationen die Schuld zu geben, dass sie über solche Ereignisse nicht kommunizierten: „Die Menschen“ hätten das auch schlicht nicht hören wollen. Die Frage ist eher, inwiefern dafür Sorge getragen wurde, dass Täter:innen mit ihrem Treiben nicht fortfahren konnten.


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