Bericht Missbrauchsseminar

15 Teilnehmer waren der Einladung zum Seminar „Wie weiter nach Missbrauch“ vom 08.-10. November auf Burg Ludwigstein gefolgt. Es war wohl das erste Seminar der bündischen Jugend, welches unmittelbar die Möglichkeit eröffnete, mit Betroffenen aus ihren Reihen ins Gespräch über deren Wünsche und Forderungen in Hinblick auf Aufarbeitung zu kommen. Es war aber auch – und dies war vielleicht noch wichtiger – für die meisten der Betroffenen die erste Möglichkeit, in größerem Kreis mit jenen zu sprechen, die sich in den Bünden für Aufarbeitung einsetzen. In vertrauensvoller Atmosphäre fanden sie den Mut, in der Gruppe von den eigenen, schwierigen Erfahrungen zu berichten. Die Bereitschaft der Gruppe, ihre Worte auch anzunehmen, ließ Stärke erwachsen. Zweifelsohne war die emotionale Dichte auch eine Herausforderung.

Andreas Huckele, (Autor, Dozent und Supervisor) gab einen Einstieg zu der Frage, wie die Forderung nach Aufklärung und Aufarbeitung von Betroffenen selbst erfolgreich geschehen kann, zumal wenn der Versuch klärender Gespräche nicht unmittelbar zu spürbarer Resonanz und Veränderung führt. Seine These: Einmal das Gespräch suchen, wenn einem danach ist, muss reichen. Erfolgt keine angemessene Reaktion, sucht man sich Verstärkung und wendet sich an Außenstehende, wie die Justiz oder die Presse. Tatsächlich erleben Betroffene in der Regel, dass sie immer und immer wieder innerhalb des Missbrauchskontextes, der übergeordneten Organisation, einen Gesprächsversuch nach dem anderen unternehmen, ohne dass sich irgendetwas ändert oder eine echte Reaktion erfolgt.

Den anwesenden aktiven Mitgliedern aus Organisationen der bündischen Jugend stellte sich somit unmittelbar die Frage, ob ein Selbstreinigungsprozess von betroffenen Organisationen überhaupt möglich ist. Denn jede/r weiß um die Hemmungen und Widerstände, aber auch ganz praktischen Schwierigkeiten des Unterfangens Aufklärung und Aufarbeitung. Angefangen von begrenztem Wissen, unvollständigen Archiven bis hin zu aus Eigenmitteln gar nicht finanzierbarer eventueller externer Aufarbeitung. Die Forderung, dass ein krankes System dann halt eben zugrunde gehen werde, wenn es nicht in der Lage sei zu genesen, dürfte sich wohl kaum ein aktiver Angehöriger der Bewegung freudig anschließen.

Eine Organisation wird oder wurde dann zur Täterorganisation, wenn Täter über ihre bloße Anwesenheit hinaus raumergreifende Dominanz gewannen – nicht unbedingt (aber oft) durch Führungspositionen, aber auch dadurch, dass durch ihre Dominanz anderen die Anwesenheit unangenehm wurde bis hin zur Verdrängung. Auf jeden aktiven Angehörigen der Bewegung mit Missbrauchserfahrung kommen zahlreiche weitere, welche sich längst und zumeist stillschweigend aus der Bewegung zurückgezogen haben. Es nützt den Betroffenen auch ein Schuldspruch vor Gericht nichts, wenn im Anschluss die Täter wieder in der Bewegung und den Freundeskreis eingegliedert werden, wohingegen die Betroffenen die Anwesenheit von Tätern und denjenigen, welche diese schützten, nicht ertragen und sich zurückziehen. Auch in diesem Sinne „täterfreundliche“ Veranstaltungen und Orte verdrängen Betroffene aus der Bewegung.

Ganz wesentlich ist die Frage nach Sinn und Zweck von Aufarbeitung. Hier ist sehr frühzeitig das Gespräch mit Betroffenen, die dazu bereit sind, zu suchen. Welche Erwartungshaltung sie an die Aufarbeitung haben und welche Ziele ihnen wichtig wären. Aus vergleichbaren Kontexten weiß man bereits, dass die Identifizierung der Täter, die Aufdeckung der von ihnen verübten Taten, besonders die Klärung, inwieweit das umgebende System darin verstrickt war, die Anerkennung der Schuld vielen Betroffenen wichtig sind. Darüber hinaus aber auch, in welcher Form Veränderung erfolgt, welche eine Wiederholung zumindest erschwert. Da öffentliche Aufarbeitung für Bünde ohne ausreichende Finanzmittel für Entschädigungszahlungen die einzig mögliche Form der Wiedergutmachung darstellt, ist es hier besonders wichtig, direkt mit Betroffenen als Beteiligten auf gleicher Augenhöhe zusammenzuwirken.

Und: Es besteht berechtigte Ungeduld. Es geht nicht an, dass Betroffene, die sich offenbart haben, über Wochen hinweg keine richtige Antwort erhalten oder den Eindruck haben müssen, dass ihren Hinweisen auch nach über einem Jahr noch nicht nachgegangen wurde, nur weil (beispielsweise) die Bundesführung zwischenzeitlich neu gewählt wurde oder das Motto des nächsten Lagers erst noch gefunden werden musste.

Als besonders belastend erlebten viele der Betroffenen die Archivführung mit Sven Reiß und die Erkenntnis, dass der sexuelle Missbrauch in der Jugendbewegung seit Gründung als „pädagogischer Wert“ hofiert und bis in die achtziger Jahre von vielen Akteuren auch offensiv vertreten wurde. Die Frage nach der aktiven Rolle von Archiven und der Notwendigkeit einer Positionierung für Aufarbeitung wurde deutlich. Aber auch, dass viele bestehende kleine Bundesarchive gegenwärtig möglicherweise entsprechende Unterlagen, die Auskunft geben könnten, falls überhaupt vorhanden (und nicht bewusst im Laufe der Jahre vernichtet), eher in Giftschränken vor den Augen der Öffentlichkeit verschließen.

Es dürften sich auch gegenwärtig in vielen Organisationen Personen befinden, welche zu Aufarbeitung zumindest ambivalente Gefühle hegen, wenn nicht sogar aktiv dazu beitragen, sie zu behindern. Sei es, um die Organisation zu schützen, sei es, sich selbst zu schützen. Eine gelingende Aufarbeitung sorgt dafür, dass nicht nur identifizierte Täter, wo noch vorhanden, aus der Organisation ausgeschlossen werden, sondern darüber hinaus auch jene, bei denen es sich um Unterlassungssünder handelt. Denn Personen, die, obgleich sie vom Missbrauch wussten, nicht eingriffen, leisteten einen aktiven Beitrag dazu, dass er möglich wurde und tragen dafür somit eine erhebliche Mit-Verantwortung. Ohne Umstehende, die wegsehen, ist Missbrauch nicht oder nicht über lange Zeiträume möglich.

Konträr diskutiert wurden die Formen, in denen gegenwärtig Aufarbeitung betrieben wird. Bisweilen zeigt sich, dass im Vorfeld die Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen nicht angehört und angemessen berücksichtigt wurden. Doch es gibt auch nicht „die Betroffenen“ als homogene Gruppe, ihre Bedürfnisse und Wünsche können sehr unterschiedlich sein. Umso wichtiger, miteinander im Gespräch zu bleiben beziehungsweise dieses unmittelbar aufzunehmen. Aufarbeitung soll aber auch oder sogar in erster Linie den Betroffenen dienen und durch diese nicht als belastend, sondern heilsam erfahren werden. Dieses Seminar mag dafür ein erster Schritt gewesen sein.


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